RADIOHEAD - Hail To The Thief
Label: Emi
“Rezension zu RADIOHEADs ‘Hail To The Thief’ oder: Zwei Versuche über ein Album”

Teil eins: Der Utopie-Diskurs in der aktuellen sogenannten “progressiven Musik” mit besonderem Augenmerk auf “Hail To The Thief”. Ein vergleichender Versuch.
Teil zwei: Eine Phantasie zu “Hail To The Thief”. Ein emotionaler Versuch.

Teil eins:
Schon interessant, wie unterschiedlich Musiker, deren Musik aus verschiedenen Gründen/unter jeweils anderen Gesichtspunkten betrachtet als “progressiv” bezeichnet wird, mit der derzeitigen weltpolitischen Lage umgehen und der Realität das Eintreten von lange vorrausgesagten negativen Utopien prognostizieren.
Ich denke da an mehr oder weniger aktuelle Veröffentlichungen wie KING CRIMSONs oder Derek Sherinians Soloalbum “The Power To Believe” beziehungsweise “Black Utopia”.
Während die erstgenannten textlich eher allgemein-soziologisch bleiben und musikalisch mit komplexen Rhythmen und atonal-angehauchten Progressiv-Rock-Monstrositäten im althergebrachten Sinne (Progressive als Programmmusik) ihre Ängste vor einer Utopie im Sinne der von großen Literaten beschworenen Überwachungsgesellschaften ohne jegliche Individualität ausdrücken, geht der eine Generation jüngere Sherinian einen anderen Weg. Progressiv bedeutet bei ihm Zurschaustellung technischer Fähigkeiten und auch seine Zukunftsängste sind andere. Der Amerikaner ist wesentlich politischer und sieht die einst so golden am Horizont leuchtende Zukunft durch Entwicklungen der letzten Jahre gefährdet.
Konträr zu seiner Sichtweise und einen Teil derer ihrer Landsmänner übernehmend die Anschauung der Engländer RADIOHEAD, die die Zukunft mindestens genauso gefährdet sehen wie Sherinian allerdings von der Seite, in der der Keyboard-Virtuose eher den letzten Hoffnungsschimmer für die Welt sehen würde. Als Unterschied zu KING CRIMSON erscheint bei RADIOHEAD die dunkle Utopie jedoch als Gegenwart, die das durch Medien, die undurchschaubare Netze der Politik und andere gesellschaftliche Phänomene verunsicherte Individuum als surreales Märchen wahrnimmt, zu verstehen versucht und daran unweigerlich scheitert.
Von den drei verglichenen Bands gehen RADIOHEAD dabei textlich am differenziertesten an die Sache heran, zitieren nicht wie KING CRIMSON und verlassen sich noch weniger -wie Derek Sherinian- einfach nur auf dumpfe Schlagwörter als Titel. Stattdessen setzen sie auf surreal-symbolische Textcollagen.
Musikalisch sind sie natürlich überhaupt nicht mit den zwei anderen, doch auch sehr unterschiedlich operierenden, “Progressive”-Bands zu vergleichen. RADIOHEAD-typisch, aber doch anders als bis jetzt, wird hier gewerkt. Nicht so sperrig, verwirrend und unzugänglich wie die letzten Alben ist “Hail To The Thief”, aber auch nicht die spröde Brit-Pop-Perle wie die ersten Longplayer der Ausnahmeband aus Oxford. Düster, mit eher wenigen elektronischen Versatzstücken, ergibt “Hail To The Thief” eine Platte, die nicht aus aneinandergereihten Songs besteht, sondern ein Gesamtkunstwerk, das völlig in sich geschlossen ist und dabei aber nicht hartnäckig dem vorgegebenen Konzept folgt, sondern sich eher in einem gewissen Rahmen oder Feld bewegt.



Teil zwei:
Wir legen einen Tonträger ein/auf und schließen die Augen NICHT. Wir erleben eine Hörwelt die sich, verglichen mit den letzten von RADIOHEAD stammenden wieder weniger sperrig und auch einheitlicher gibt.
Es geht weiter, wir tauchen tiefer ein. Mit weit aufgerissenen, nach außen in die Leere starrenden, nach innen in der Beobachtung nervös hin- und herzuckenden Augen sehen wir fassungslos ein Spektakel, das sich still aber doch voll Bewegung gestaltet.
Still aber doch voll Bewegung, denn die ständige Dynamik der Musik verbietet zwar jegliche physische Bewegung und lässt Tanzen oder auch nur tranciges Shaken als Zumutung, als Anmassung erscheinen, gebietet dabei aber gleichzeitig nicht nur Aufmerksamkeit sondern geistige Bewegung, ein innerliches Mitgehen.
Die Töne werden zu Farben und schließlich zu Szenen, die in ihrer Gesamtheit einen Mikrokosmos ergeben.
Fetzen der Realität fügen sich in unseren Köpfen wieder zu einem Bild zusammen, bei diesem Puzzle sind jedoch einige Teile sonderlich verrückt, sind vielleicht Versatzstücke aus einem anderen und wurden mit Gewalt hier hineingefügt, ergeben in dieser absonderlichen Anordnung aber auch wieder einen surrealen Sinn.
Die Collage, die sich ergibt, ist ein Meer aus Fetzen in rostbraun, dem rot der Blätter kurz bevor sie fallen, dem grau des zerfallenen Stahlbetons einer stillgelegten Industrieanlage und dem feuchten schwarz eines Steines, den man gerade umgedreht hat, um die Käfer auf seiner Rückseite zu sehen, ein Meer das zwar ruhig vor einem liegt, das jedoch seltsam flimmert wie die zeitgerafften Aufnahmen, die wir alle von Dokumentarfilmen kennen, wenn uns die Verwesung verdeutlicht werden soll. Zwischendurch gibt es dann und wann auch ein helles Flimmern, das wie Glühwürmchen, die wie Bildfehler in alten Kinofilmen durch das Bild in unserem Inneren flitzen, wirken.
Und auf diesem Meer als Untergrund arbeiten RADIOHEAD weiter, bauen eine märchenbuch-ähnliche Welt darauf auf, in der Zinnsoldaten trommeln um im Auftrag der Mächtigen der Welt -Zauberer, die unwirklich erscheinen wie der große Bruder in Orwells “1984”- alle brav runterbeten zu lassen, dass zwei und zwei fünf sind. Am Rande dieser düsteren Welt sitzt das zeitgemäße Pendant zu Seargant Pepper’s Lonely Hearts’ Club Band und musiziert mit dem monotonen Trommeln im Hintergrund. Doch statt den drogengeschwängerten Blumenphantasien von einst wird heute verfaultes Obst intoniert, süßlich aber doch unangenehm.
Zwischen dem Abgrund zum Nichts und den ebenfalls unendlich scheinenden Weiten der eben beschriebenen Welt erkennen die Musiker, dass diese düstere Utopie nicht länger eine finstere Utopie ist, sondern die Realität in der sie sich befinden. Die Schreckensvision hat die Schöpfer geschluckt.
In einer Gestalt, in der wir ihn wohl nicht erwartet hätten, marschiert auch schon unser Kläger, Richter und Scharfrichter auf uns zu (den inzwischen sind wir so tief in die Welt RADIOHEADs eingetaucht, dass alle Grenzen - nicht nur zwischen RADIOHEAD und ihrem Werk sondern auch zwischen uns und ihnen - verschwimmen) und als wir das bemerken, liegen wir auch schon in Ketten, werden abgeführt um in seinem Sinne, zu seinem Zwecke eine Existenz zu führen, in der wir in unseren Rollen versteinern.
In unserer Kafkaesken Lage stimmen wir mit gesenktem Haupt unsere Füße nachschleifend ein Lied an und wieder in die Rolle des Subjektes zurückversetzt vernehmen wir “Hail to the thief”.






6.5 von 7 Punkten

Tracklist:
1. 2+2=5. (The Lukewarm.)
2. Sit Down. Stand Up.(Snakes&Ladders.)
3. Sail To The Moon. (Brush The Cobwebs Out Of The Sky.)
4. Backdrifts. (Honeymoon Is Over.)
5. Go To Sleep. (Little Man Being Erased.)
6. Where I End And You Begin. (Your Time Is Up.)
7. The Gloaming. (Softly Open Our Mouths In The Cold.)
8. There There. (The Boney King Of Nowhere.)
9. I Will. (No Man's Land.)
10. A Punchup At A Wedding. (No No No No.)
11. Myxomatosis. (Judge, Jury & Executioner.)
12. Scatterbrain (As Dead as Leaves.)
13. A Wolf At The Door. (It Girl. Rag Doll.)
Gesamtspielzeit: 56:37

Kronos
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Beitrag vom 20.06.2003
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