SLIPKNOT   MY RUIN  
24.05.2004 @ Astroria, London

Die um vier Uhr nachmittags bereits beachtlich lange Menschenschlange spiegelt sich im silbernen Glanz des vorbeifahrenden Mercedes wieder, die japanischen Geschäftsleute blicken neugierig aus den Fenstern, als sich eine Gruppe Maskierter löst und den Wagen mit Bier überschüttet.
Tosender Beifall und Gegröle der Madenmeute – das Geheul eines ankommenden Polizeiautos geht unter.
Mit Schlagstock bewaffnet steigt ein Polizist aus dem Wagen, einen Moment lang betrachtet er die Menge bis sich sein Gesicht zu einem Grinsen verzieht und er den versammelten Fans das „Evilhorn“ entgegenstreckt.
Applaus, Fotos werden geschossen – der Polizist wird zum Held.

Schauplatz dieser skurrilen Szene ist der Platz vor dem Londoner Astoria. Dort wo Slipknot vor fünf Jahren ihren ersten London-Gig absolviert haben, werden sie nun das erste Mal seit zwei Jahren wieder auf europäischem Boden rocken. Das Konzert ist erst wenige Tage davor publik gemacht worden, nichtsdestotrotz war es innerhalb kürzester Zeit ausverkauft, schließlich fasst diese Kulthalle nur knapp 1600 Leute.
Pünktlich um 19 Uhr öffnen die Securities die Pforten und machen sich sobald durch penibel genaue Leibeskontrollen unbeliebt, gar harmlose Nietenbänder werden den Besuchern abgeknöpft.
Ich mache mich auf der Suche nach einer Bar, wo ich dann auch eine kühle Dose Carling um ´läppische´ 3,20 (Pfund!) erstehe – steige die Stiegen hinab, vorbei an den ebenfalls überteuerten Merchandise-Ständen und gelange in den Stehbereich vor der Bühne.
Und bin völlig überrascht wie klein dieser ist, mehr als knapp 1000 Leute finden dort selbst zusammengedrängt garantiert keinen Platz. Der Großteil der Besucher wird die Show von der großen Tribüne aus mitverfolgen.
Ich betrachte den SLIPKNOT-Banner im Hintergrund der Bühne und mir kommt die Gänsehaut, man fühlt sich hier wie mit der Zeitmaschine zurückgereist in eine Zeit in der SLIPKNOT solch kleine Clubs beehrten – ohne Zweifel wird das hier und heute ein sehr spezielles Ereignis.
Angesichts dessen hol ich mir erst mal das nächste Bier, und als ich zurückkomme betreten gerade MY RUIN die Stage, deren Frontfrau eine wirkliche beindruckende Show abzieht. Ihre Mitstreiter stehen optisch im Schatten, auch wenn ihre musikalische Leistung sehr ordentlich ist – diese Band werde ich bei Gelegenheit jedenfalls antesten.
Was nun begonnen hat, diese schier ewig dauernde Umbauphase, ist die reinste Folter. Die Temperatur war so hoch, dass wir dicht beieinandergedrängt um die Wette schwitzen mussten.
Alte, klassische Metal Songs von METALLICA, PANTERA & Co. dröhnen aus den Boxen, und bald weicht der Enttäuschung Resignation als nach über einer Stunde Wartezeit immer noch ein Song dem nächsten folgt. Rechts und links der Bühne sind Screens angebracht, an denen die Konzertbesucher via SMS chatten können, zu Beginn der Show sollten diese dann abgedreht werden. Nun aber wird über Dinge wie die am selben Tag erschienene neue SLIPKNOT-Platte, oder den nächstem Sprechchor diskutiert.
Den Leuten, die hier einen Pfund pro SMS opfern bin ich jedenfalls dankbar, da es die Wartezeit kurzweiliger macht.
Doch noch müssen wir uns gedulden, bis dann endlich grelle Lichtblitze die Halle durchzucken, und schließlich alle Lichter erlischen – Stille – die aber nur kurz währen sollte.

"Circle" eine Ballade der neuen Scheibe wird bei maximaler Lautstärke vom Band abgespielt, ein Scheinwerfer bleibt nun starr auf den SLIPKNOT-Banner gerichtet. Eine wahrlich eigenartige Stimmung kommt auf, die sich sonst kaum zu Beginn von SLIPKNOT-Konzerten verbreitet. Anders als die aggressiv machenden "Barcode"- beziehungsweise "515"-Intros, entführte einen "Circle" förmlich in eine andere Welt.
Dem Song folgt ein minutenlanges Soundgewirr aus wildem Gescratche, bis es schließlich Zeit für das "Barcode"-Intro ist. Bierbecher fliegen zuhauf auf die Bühne und die Fans können es kaum noch erwarten, bis es losgeht. Nun ist es soweit – von links, rechts und hinten kommen die neun auf die Bühne und nehmen ihren angestammten Platz ein und dann donnern sie auch schon mit "(sic)" los.
Im Publikum geht es jetzt heftig her, all der aufgestauten Aggression ob der
ewig langen Umbauphase wird nun ihr freier Lauf gelassen. Ohne Umschweife geht es dann sofort weiter zum nächsten Kracher: "The Blister Exists".
Joey, Chris und Shawn, der sich eine Krawatte umgebunden hat (AVRIL LAVIGNE hat also auch auf SLIPKNOT ihren Einfluss... - Anm. Kronos) trommeln die Halle förmlich in Grund und Boden.
"Eyeless" ist als nächstes dran, und die Textzeilen werden lauthals mitgebrüllt.
Bevor sie den Klassiker in spe - "Three Nil" - zelebrieren, macht Corey deutlich wie wichtig ihm dieser Tourbeginn in London ist und welche Bedeutung das Konzert hat. Der Song wird dann beindruckend runtergeknüppelt, definitiv mein Lieblingssong der neuen Platte.
Nach diesem extrem brachialen Einstieg stimmen SLIPKNOT erst mal "Duality" an: „I push my fingers into my eyes, to slowly stop the ache...“ und ich verschwinde aufs Klo um meinem ausgetrockneten Körper Wasser zu spenden.
„All I´ve got is insane” schreit sich Corey gegen Ende des Songs die Seele
aus dem Leib als ich mich wieder ins Publikum vorkämpfe.
Einige Lobhudelein folgen und dann spielt Mick das "Left Behind"-Riff. Diesen Song haben Slipknot auf der Jägermeister-Tour nicht mehr gespielt, leider sollte das die einzige Abweichung zur Setlist der Tour durch die Staaten bleiben.
Kompromisslos geht es dann mit "Disaster Piece" weiter, wie alle Songs am
heutigen Abend wird auch dieser mächtig dargeboten.
Bei "Purity" scheint dann die ganze Halle kurz vor dem Zusammenbruch zu
stehen, der Aufforderung zu Springen kommen alle nach, und die Vibrationen gleichen einem Erdbeben der höchsten Stufe.
Sirengeheul. „This is the year where hope fails your...“ Das Sample zu "Pulse of the Maggots", der Kracher zu Ehren der Maden, ertönt. Jim und Mick beweisen welch außerordentlich gute Gitarristen sie entgegen der allgemeinen Meinung sind. Der Song kommt gewaltig gut, Gänsehaut pur als Corey nach dem Gitarrensolo den „say it again, say it again“ Part schreit und Chris zu seiner rechten, Shawn zu seiner linken, beide kniend „We won't die!“ in die Mikros brüllen.
Als ich die ersten Geräusche von "Iowa" vernehme, atme ich erleichtert
durch, für einige Minuten heißt es jetzt erst mal neue Kräfte zu sammeln und
dieser leider stark verkürzten Version entspannt zu lauschen.
"8, 7, 6, 6, 6, 5, 4, 3, 2, 1" – der Countdown zu "Heretic Anthem" läuft unweigerlich ab und der Pit explodiert ein weiteres Mal aufs Heftigste. Ohne Umschweife geht es weiter, es ist Zeit für einen alten Klassiker: "Spit it out". Wie gewohnt wird die altbekannte Aufforderung sich niederzusetzen um bei Befehl aufzuspringen mit in den Song gepackt. Vor "Wait and Bleed" erzählt uns Corey noch mal, wie gern er uns hat, um uns dann zu bitten, ihm beim nächsten Song mitsingen zu helfen. Und es klingt überwältigend mehr als 1500 Stimmen die Zeilen „I felt the hate rise up in me...“ lautstark singen zu hören.
Die Band verlässt die Bühne, doch das Publikum weiß, dass sie zurückkommen
werden, schließlich stehen noch die zwei Überkracher "People = Shit" und "Surfacing" aus.
Die ersten Schreie des "[515]"-Intros lassen auch nicht lange auf sich warten,
Joey nimmt wieder seinen Platz hinter dem Drumkit ein und leitet "People =
Shit" ein – dann sind die anderen auch schnell zurück um den Song zum Besten
zu geben. Shawn springt beim letzten Refrain in den Bühnengraben und lässt die erste Reihe den Refrain ins Mikro brüllen.
Mit meiner Kondition komplett am Ende, nehme ich am Rande wahr, dass Corey meint es sei Zeit für den letzten Song, die neue Nationalhymne für ihre Fans (??? - Anm. Kronos) – "Surfacing".
Ähnlich einem Gejagtem, der um sein Leben sprintet, werden noch mal die letzten Kräfte aktiviert und es kommt noch einmal Leben ins Publikum. Den Refrain zu schreien überlässt die Band fasst völlig den Fans: „Fuck it all! fuck this world! Fuck everything that you stand for! Don’t belong! don’t exist! Don’t give a shit! Don’t ever judge me!" röhrt es ein letztes Mal aus Hunderten Kehlen, bevor SLIPKNOT ohne sich groß zu verabschieden die Bühne verlassen, und die Fans völlig erledigt nach Luft schnappen.

Es war zweifelos eine imposante Vorstellung von SLIPKNOT an jenem Abend, das Astoria wurde zu Boden gerockt.
Mein einziger Kritikpunkt ist, wie schon erwähnt, dass man bei dieser Band
generell immer die nächste Nummer vorhersagen kann – das nimmt den Fans die
öfter ihre Shows besuchen etwas an Spannung (Eine Tour ist denke ich eigentlich auch nicht so gedacht, dass man der Band über den halben Globus nachreist, um sie 666mal zu sehen. Nicht vergessen, gell ;o) - Anm. Kronos).
Nach dem Konzert hab ich Shawn darauf angesprochen und ich denke, dass ich ihm eine unbedachte Aussage entlockt habe.
Wir diskutierten eben über Songs von "S/T" und "Iowa", die sie noch nie live
performed haben, als er meinte, dass sie schon darüber geredet haben, am Ende
– ihrem letzten Konzert - alle ihre drei Alben live zu performen, mit jeweils
einer Stunde Verschnaufpause dazwischen.

Daraus kann man rausdeuten, dass es bereits beschlossene Sache ist, kein weiteres Album auf ´Vol. 3: The Subliminal Verses´ folgen zu lassen. Mit der
Zahl 3, deren Bedeutung die Band in aktuellen Inteviews öfter betont hat, ohne konkret zu werden, würde sich also der Kreis schließen.
Gut möglich aber auch, dass ich das falsch reininterpretiert habe - die Metalszene würde jedenfalls eine großartige, vielfach unterschätzte Band
verlieren!


Antihero
21 bereits abgegebene Kommentare


Zurück

Beitrag vom 01.06.2004
War dieser Bericht
interessant?

352 Stimme(n)
Durchschnitt: 5.34
Diesen Beitrag bewerten:
  
Diesen Beitrag per E - Mail verschicken:
An:
Von:
Kommentar: