SEX PISTOLS  
27.07.2002 @ Crystal Palace, London

2002 feierte bekanntermaßen nicht nur die Queen ihr Goldenes Jubiläum, auch eine untrennbar mit ihr verbundene Band hatte Grund zum Feiern: vor 25 Jahren erschien das Debütalbum der SEX PISTOLS, "Never Mind The Bollocks", mitsamt seinen Skandalen rund um das Wort Bollocks (Eier) als Plattentitel, Flüche in einer Live-Fernsehshow und vor allem rund um die Songs "Anarchy In The UK" und "God Save The Queen". Shocking! Ein perfekter Grund für ein Reunionkonzert.

Die SEX PISTOLS waren schon immer eine widersprüchliche Band. Auf der einen Seite steht das gern (wenn auch nicht absolut richtig) als Geburtsstunde des Punk gesehene "Never Mind The Bollocks", das anarchistische Auftreten der PISTOLS, wütende Texte und die absolut bahnbrechende Musik, die – ob man es wahrhaben will oder nicht – die weitere Musikgeschichte maßgeblich beeinflusst hat. Auf der anderen Seite steht Malcolm McLarens professionelles und berechnendes Management, das heute schon eher an eine Boygroup als an eine Punkband erinnert, die Skandale, die von McLaren gern gefördert und von der Boulevardpresse dankbar aufgenommen wurden, und die Spannungen innerhalb der Band, die schließlich zum Bruch führten. Was damals jedenfalls halb Großbritannien den Untergang des Abendlands heraufbeschwören ließ, gehört heute schon zum guten Ton, und die einstigen Staatsfeinde Nr. 1 – allen voran John Lydon alias Johnny Rotten – werden stolz als Kulturgut präsentiert.

Im Unterschied zur mörderischen 96er Reunion, bei der sie weltweit fast mehr Konzerte gespielt haben als vor ihrer Trennung insgesamt, sollte es diesmal nur ein einziges Jubiläumskonzert sein, und das gleich im Crystal Palace. Ein typischer PISTOLS-Gegensatz: die Urpunker spielen Stadionrock. 1996 gab es Beschwerden, dass sie ihre eigene Legende verkaufen würden und die Konzerte enttäuschend seien. Diesmal fanden manche das Crystal Palace National Sports Center unpassend. Die PISTOLS reagierten wie immer: es war ihnen egal.

So oder so – die SEX PISTOLS sind und bleiben eine Legende, und das möglicherweise letzte Konzert der alten Herren wollte ich mir nicht entgehen lassen. Am Freitag sind wir zu dritt Richtung London gedüst; am Samstag ging's zum leider etwas außerhalb gelegenen Crystal Palace. Nach ein paar Stunden Suche haben wir dann auch das relativ unübersehbar direkt neben der Bahnstation gelegene Stadion gefunden – der Pubbesuch am Vortag hatte es wohl eindeutig in sich. Verpasst haben wir dabei nicht viel: Das Stadion war beinahe leer, und das nicht ohne Grund. Die meisten Vorbands waren unter jeder Kritik und wirkten meist total überfordert oder sogar lächerlich. Vor dem Bierstand war eindeutig mehr Andrang als vor der Bühne. Nur die DROPKICK MURPHYS bildeten ein würdiges Rahmenprogramm und brachten erstmals etwas Stimmung unter die Leute. AMEN mussten nach dem Armbruch des Gitarristen leider absagen – gutes Timing, würde ich sagen. Erst gegen Abend füllte sich der Palace mit gut 20.000 Zuschauer. Ein paar hochkarätigere Bands im Vorprogramm hätten sicher nicht geschadet.

War die Stimmung bei den Vorbands eher schwach, so zeigte sich schon das Potenzial des Publikums, wann immer Johnny Rotten seinen Kopf zeigte (mit hübschem bunten Muster in der Frisur, wie wir sie früher immer als Zierlinie unter die Schulaufsätze zeichnen mussten). Mit einer Coverversion von HAWKWINDS "Silver Machine" gings dann auch los. Gleich darauf folgte "Holiday In The Sun" und schließlich praktisch alle restlichen PISTOLS-Songs, inklusive Sid Vicious' zynischem "Belsen" und Coverversionen wie IGGY POPs "No Fun". Die Stimmung vorne war dementsprechend, die ersten zwanzig Reihen sind mehr gelegen als gestanden und von hinten kam einiger Druck. Trotzdem fehlte irgendwas, mir kam vor als würde niemand so richtig mitsingen. Das könnte vielleicht daran liegen, dass auch die Eingeborenen Probleme mit Rottens Genuschel hatten, von gelegentlichen Textänderungen oder -aussetzern ganz abgesehen. Natürlich könnte es auch daran liegen, dass vorne ohnehin keiner mehr Luft zum mitsingen übrig hatte. Waren ja schließlich doch auch einige ältere Jahrgänge im Publikum.

Erst gegen Ende bei "EMI" wachte das Publikum so richtig auf; bei den Zugaben gab es schließlich kein Halten mehr. Erst intonierte Rotten mit dem Publikum "My Way", was zwar wie gehabt im Chaos versank, die Stimmung aber umso mehr aufheizte. Das folgende "Anarchy In The UK" zog mir dann schon die Gänsehaut auf. Für die Zugabe Nr. 2 blieb dann nur mehr ein Lied übrig: "God Save The Queen" der absolute Höhepunkt.

Im Endeffekt spielten die SEX PISTOLS genau das, was man von ihnen erwartete: Druckvollen, kompromisslosen Punk. Wer schaut sich schließlich die PISTOLS an, um eine perfekte Bühnenshow à la KISS zu sehen? Und über all dem stand dann noch der Hauptschuldige an dem ganzen Wirbel: Johnny Rotten. Die einzigartige Mischung aus Selbstverliebtheit, Überheblichkeit und purem Sarkasmus gepaart mit seinem extremen Cockney-Dialekt und seinem Sinn für Freundlichkeiten ("England has a new Queen, it's Tony-fuckin'-Blair.") schaffte eine unglaubliche Bühnenpräsenz. Rottens Erscheinung ließ erahnen, warum die SEX PISTOLS damals für so viel Aufruhr sorgten. Irgendwie erinnerte er mich an Jack Nicholson in "The Shining". It's singalong-with-Jaahnni-Tiiime!! Johnny Rotten auf einer Bühne zu sehen ist eindeutig ein Erlebnis, das man nie wieder vergessen wird; zusammen mit den restlichen PISTOLS und den legendären Songs ergibt das einen Auftritt, für den sich auch ein Flug zum Mars lohnen würde. Zwar nicht das beste Konzert, an das ich mich erinnern kann, aber auf jeden Fall das eindrucksvollste.

www.sex-pistols.net

Rooster

Zurück

Beitrag vom 03.09.2002
War dieser Bericht
interessant?

352 Stimme(n)
Durchschnitt: 5.34
Diesen Beitrag bewerten:
  
Diesen Beitrag per E - Mail verschicken:
An:
Von:
Kommentar: