Interview mit EVEREVE - Von der Bedeutung des Lebens


Es gibt Interview-Partner, denen muss man alles aus der Nase ziehen. Michael P. Zeissl, Sänger und Keyboarder von EVEREVE, gehört zu einer anderen Kategorie. In seinen Antworten kommt immer etwas rüber, was ihn, die Band und die Fans bewegt - mit Blick auf die neueste Scheibe der süddeutschen Cyber-Goth-Band, "Enetics".



Kompliment. "Enetics" geht mächtig nach vorne los, lässt aber auch ruhigere und melancholischere Passagen nicht außer Acht. Werden diese Symbiosen das zukünftige musikalische Leitbild EVEREVEs sein?


Waren sie immer schon. Wir haben lediglich versucht, das noch deutlicher herauszuarbeiten. Auf dem neuen Album sind wie gewohnt einige alte, aber auch neuartige Facetten enthalten, sowohl musikalisch als auch textlich. Stillstand bedeutet Tod - in kreativer Hinsicht wie auch auf die eigene persönliche Weiterentwicklung bezogen. Veränderungen, nur um der Veränderung willen, sind so sinnlos wie ein silberner Klodeckel, aber jeder von uns macht täglich neue Erfahrungen, die sich als einzelne Puzzleteilchen in die Existenz eingraben. Wir sind keine Funband, aber eigentlich auch keine typische Gothic- oder Metalband. Unser gemeinsamer Ausgangspunkt ist stets intensiv, hart und irgendwie romantisch. Die Außenhülle wechselt und zeigt vielerlei unterschiedliche Ausprägungen. Wir entwickeln uns weiter und unsere Musik entwickelt sich weiter. EVEREVE lebt.


Euer neueres Material unterscheidet sich ja mittlerweile sehr von den alten Sachen etwa auf "Seasons" oder "Stormbirds". Inwieweit spielt ihr live noch Stücke dieser Scheiben?


Das hängt nicht zuletzt von der Länge des Sets ab. Zugegebenermaßen liegt der Schwerpunkt auf den beiden letzten Alben und wird meist noch durch ein, zwei Hits von "Regret" ergänzt. Grundsätzlich setzen wir uns aber keine Limits oder verleugnen gar die alten Songs – wie uns einige neunmalkluge Leute vorwerfen. Es wäre ja wohl tragisch, wenn jeder Fan alles, was wir tun, kritiklos und untergeben abfeiern würde. Insofern war uns klar, dass es auch negative Reaktionen auf unsere Entwicklung geben wird und sie sind auch wichtig für uns. Auf der anderen Seite kann es nicht unser Ziel sein, es allen recht zu machen. EVEREVE 2003 klingen eben wie EVEREVE 2003. Es gibt genug Fans, die sich mit uns weiterentwickelt haben und auch einige, die diesen Weg nicht mitgehen wollten und deshalb verständlicherweise den alten Zeiten nachtrauern. Kann ich verstehen und finde ich schade, aber ich kann das nicht ändern. Das Einzige, was ich diesen Leuten immer antworte, ist: Geh' einen Schritt beiseite, öffne Dein Herz und versuch' mal zu spüren, ob Du in den neuen Songs nicht doch das findest, was Dich früher bei EverEve berührt hat.




"Abraza La Luz" ist ein Lied komplett in Spanisch.


Das haben wir nur gemacht, damit man uns in Interviews danach fragt, hahaha. Spanisch ist eine Sprache mit Haaren auf der Brust, die sehr emotional ist. Außerdem haben wir seit "E-Mania" sehr viele Mails aus spanischsprachigen Ländern bekommen, die Übersetzungen unserer Songs enthielten – und die Bitte, doch auch mal einen Song in dieser Sprache zu verfassen. Der Aspekt "Sprache" ist bei uns immer schon wichtig gewesen und wir hatten ja bereits früher mit französischen und deutschen Songs experimentiert. Wir haben "Abraza..." übrigens auch in Englisch aufgenommen und werden diesen Track auf einer Bonus-CD, die in einer limitierten Erstauflage der regulären CD beiliegt, veröffentlichen. Zusätzlich gibt es einige sehr geile Remixe, die von uns persönlich ausgewählt wurden sowie einen Multimediateil mit Videotracks, Fotoshow und einigen Überraschungen.
Doch zurück zum Song: Wie so oft bei mir haben wir hier was textlich Ambivalentes, da er noch mehr als alle anderen je nach Betrachtungsweise positiv oder negativ interpretiert werden kann. Zu Beginn des Songwritings hatte ich irgendwie den Wunsch, bei den Texten des neuen Albums einen positiven Touch reinzubringen. Doch als ich mich tiefer in die Abgründe meiner Seele hinabgewagt habe, wurde ich wieder weitaus nachdenklicher als ursprünglich geplant. Hinzu kam ein überraschender Todesfall im Bandumfeld, der mich relativ stark beschäftigt hat. Zum zweiten Mal wurde eine EVEREVE-CD in ein Grab geworfen – und ich kann auf eine Wiederholung dieser Erfahrung getrost verzichten. (Nachdem vor einigen Jahren der frühere Sänger Tom Sedotschenko Selbstmord beging – Anm. der Redaktion) Dies sorgt wieder für diese Momente, in denen ich bezweifle, dass für jeden von uns doch irgendwo ein kleines Stückchen "Himmel" bereitsteht. Dennoch steckt in mir trotz aller Bitterkeit mehr Lebenslust als –frust und meine Angst vor dem Tod zeigt mir, dass mir das Leben offenbar sehr viel bedeutet. Und ich weiß, dass es den übrigen Bandmitgliedern ebenso geht. Daher versuchen wir jeden Tag restlos auszukosten. Sex, Drugs & Cyber-Goth - umarme das Licht: Abraza la luz.





Ihr werdet mir hoffentlich den Vergleich verzeihen, wenn ich bei Eurer Musik von Einflüssen durch Wave-Größen wie DEPECHE MODE spreche.


Das ist eine große Ehre für mich, da ich DEPECHE MODE sehr mag. Beeinflusst wird jeder von uns in irgendeiner Weise und das schlägt sich natürlich auch in der eigenen Musik nieder. Sicherlich spielen da aber noch sehr sehr viele andere Künstler beziehungsweise Bands für uns eine Rolle, vom Gothic- und Metal-Bereich bis hin zu Pop- und Elektrobands. Das betrifft übrigens eines meiner Lieblingsthemen: Vergleiche und Beurteilungen von Bands durch selbsternannte "Experten", wobei ich das jetzt nicht auf Dich bezogen habe, da Du ja von "Einflüssen" sprichst und damit wohl genau den richtigen Ausdruck gefunden hast. Nach jedem Album kommen vereinzelt Vorwürfe, wir würden die Band XY kopieren oder umgekehrt. Sehr amüsant und für uns weitaus weniger bedeutend als man vielleicht glaubt. Der Fan hat einen Kopf zum Denken und macht sich doch eh selbst sein eigenes Bild. Weder XY noch wir haben es erfunden, sich die Haare aufzustellen, sich zu schminken und spacige Klamotten anzuziehen. Es gibt immer ein paar Menschen, die super-investigativ feststellen, an welchen Trend wir uns jetzt gerade wieder anbiedern ("Oh, sie verleugnen jetzt die Goth-Roots und machen einen auf Nu Metal", "Oh, sie haben jetzt Pseudonyme und kurze Haare und sind keine Metalband mehr", usw.). Derartige Aussagen zeigen mir, dass viele keinen blassen Schimmer haben, WAS EVEREVE eigentlich ist und gehen uns somit meilenweit am Gesäßmuskel vorbei.
Kunst ist und bleibt subjektiv – und das ist auch gut so. Punktesysteme und Plattenkritiken kann man sicherlich nicht einfach aus allen Magazinen verbannen, aber wen interessiert es ernsthaft, ob eine CD jetzt drei oder acht Punkte erhält, außer den Plattenfirmen. Ich hoffe nicht, dass deswegen irgendein Fan eine Platte nicht antestet oder nur kauft, weil sie eben die Höchstpunktzahl ergattert hat. Wenn doch: make my day.




In einem Vorabinterview zum neuen Album sagtest Du, es gehe darin um die Freiheit des Menschen, "ohne dabei zu einem konkreten Fazit zu kommen". Kein Fazit, aber eine Meinung wirst Du doch dazu haben.


Nö, hab' ich leider nicht – außer vielleicht, dass ich mich manchmal sehr frei fühle und in anderen Momenten das Gefühl habe, der Mensch ist quasi nie frei. Einer der wenigen Punkte, die sich bei mir beziehungsweise uns nicht weiterentwickeln ist eine zentrale textliche Aussage in fast allen EVEREVE-Songs: das Leben ist ambivalent, voller Widersprüche und Selbstzweifel. Deutlich spürbar wird das in Songs wie "The more she knows". Neben z.B. "December Wounds" ist das mit Sicherheit ein Song, in dem die Extreme musikalisch und textlich am engsten zusammenliegen. Er liefert somit ein gutes Spiegelbild meiner eigenen Ambivalenz und Widersprüchlichkeit. Es geht thematisch um Fehler, die begangen werden, obwohl man sich in diesem Moment sicher ist, dass es eben ein Fehler ist. Eine interessante Eigenart der menschlichen Spezies. Begehe ich eine bestimmte Handlung, obwohl ich weiß, welche negativen Konsequenzen sie hat? Fühle ich mich dann frei? Oder ist der frei, der die Stärke hat, eben diese Handlung nicht zu begehen? Hm, vielleicht sollte ich mal Sonntagmorgens diese Themen diskutieren – in einer dieser intellektuellen Talkshows, die keinen Menschen interessieren.


Die Freiheit der Menschen ist ja bei der derzeitigen politischen Situation eh fragwürdig. Würde es EVEREVE stehen, Texte mit politischem Inhalt zu verarbeiten?


Das Thema "Freiheit" wird ja auf "Enetics" eher aus der individuellen Perspektive der einzelnen Person beleuchtet und nicht in politischer beziehungsweise gesellschaftskritischer Hinsicht. EVEREVE sind, waren und werden nie eine politische Band - sofern man überhaupt unpolitisch sein kann- sein. Irgendwie ist es in der Politik ähnlich wie in der Wissenschaft: Alles wird noch schneller, noch leichter und noch besser, und noch unberechenbarer. Grave new world! Aber auch sehr faszinierend: Da die Welt ein offenes dynamisches System ist und bleibt, gilt trotz aller technischen Entwicklung nach wie vor: kleine Ursache kann zu großer Wirkung führen. Stichwort: Butterfly-Effekt.


Ist EVEREVE mittlerweile ein Fulltime-Job? Oder läuft die Band noch neben Euren Studien?


EVEREVE ist ein Fulltime-Job mit einem Halftime-Gehalt. Dies erfordert einen massiven Aufwand an Zeit, Energie, Koordination und Organisationstalent, aber es ist durchaus möglich. Man kann Geld, Band und Universitätsstudium unter einen Hut bringen. Aber die Musik ist die Priorität in unserem Leben. Jede Faser unseres Herzens ist EVEREVE. Wir sind auch definitiv ein Team und keine Profilneurose von mir, auch wenn ich hauptsächlich für die Musik und Texte unzählige Stunden meines Lebens investiere. Erst in der Zusammenarbeit mit meinen Jungs entsteht Magie!
Aber auch in dieser Beziehung gilt: Bei uns ist alles anders! EVEREVE wäre ein geeignetes Thema für sozialwissenschaftliche Studien: Ich gebe ganz klar die Richtung vor, aber wir sind kein Soloprojekt. Wir sind nicht unbedingt die engsten Freunde, aber sobald wir im Proberaum stehen, herrscht eine Vertrautheit, die schon fast unheimlich ist. Manchmal hören wir wochenlang nichts voneinander, wenn wir uns dann treffen, ist es, als hätten wir uns erst vor kurzem gesehen. Jeder bringt seine Meinung ein, aber wir sind keineswegs demokratisch. Und nicht zuletzt: wir machen uns ständig übereinander lustig und sticheln – aber wenn es darauf ankommt, können wir uns blind aufeinander verlassen. EVEREVE ist eine Band der Widersprüche. Wir sind ein Haufen von eigenbrötlerischen, kreativen Chaosmenschen, die sich regelmäßig in sinnlosen Diskussionen verstricken. Wir sind auf eine gewisse Art wahnsinnig - irgendwie macht aber genau das den Charme dieser Band aus.



MZ Eve 51, SK Durden, Havoc, Mcee und O-IQ: Eure bürgerlichen Namen verwurstelt mit Phantasie zu Pseudonymen? MZ Eve 51 leitet sich wohl aus Michael Zeissl ab, oder?


Auch. Die Initialen sind abgeleitet, alles andere ist eine Mischung aus EVEREVE-typischen Wortspielen, die ein gesundes Augenzwinkern und Selbstironie mit einem ernsten Hintergrund verbinden. Insofern ist es kein Fun oder Witz, sondern diese Namen sind sehr wichtig für uns. Sie sind einerseits eine Art Zeichen für den Neuanfang (wobei dieser Begirff jetzt dramatischer klingt als er eigentlich gemeint ist), der mit "E-Mania" für uns begann. Zum anderen passen sie ins Gesamt-"Cyber"-Konzept und strotzen vor Doppeldeutigkeiten und Andeutungen, wenn man sich die Mühe macht, diese Ansammlung von Buchstaben mal genauer zu durchleuchten. Übrigens kam doch tatsächlich ein Journalist eines großen deutschen Metalmagazins in einer selbstgerechten Kritik zu ".enetics" jetzt schon auf die Idee, sich in besonders "witziger" Art und Weise über die Pseudonyme herzumachen. Danke für diese gelungene Promotion und Guten Morgen! Wir hatten diese Namen schon beim letzten Album.


www.evereve.net

Autor: Philipp
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Beitrag vom 09.05.2003
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